Ich sehe was, das du nicht siehst

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Ich sehe was, das du nicht siehst ...

Egal, ob ich durch die Fußgängerzone gehe oder durch einen Park, ob ich im Zug sitze oder gerade einkaufe: mir springen allerorts Alkoholflaschen ins Auge. Ich kann dagegen nichts tun. Ich entdecke sie überall, egal ob sie offen herumstehen, im Graben liegen oder halb hinter einem Busch versteckt sind. Egal, ob sie halbvoll, leer oder zertrümmert sind.

Ein Phänomen, das mir bei Spaziergängen mit Freunden schon reichlich Verwunderung eingebracht hat. „Was du alles siehst?!?“, heißt es dann oft. Dabei geschehen diese Entdeckungen völlig ungewollt und unbewusst, als hätte ich dafür ein Radar im Kopf. Was heißt „hätte“? Ich HABE dafür ein Radar im Kopf und das heißt Suchtgedächtnis.

Als Alkoholikerin war es für mich einst überlebenswichtig, dass ich stets einen Überblick darüber hatte, wo sich wie viel Alkohol befand, wie ich (unbemerkt) drankomme und wo ich leere Flaschen (unauffällig) entsorgen kann. Über Jahre habe ich so bereits meine Wahrnehmung für Alkoholflaschen trainiert. Davon, dass ich bereits seit fast 5 Jahren abstinent lebe und inzwischen überhaupt nicht mehr auf die permanente Versorgung mit Alkohol angewiesen bin, zeigt sich mein Suchtgedächtnis völlig unbeeindruckt. Ich sehe nach wie vor überall Flaschen.

Kennst du dieses Phänomen ebenfalls?

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Es kann sehr irritierend sein, wenn man für sich längst die klare Entscheidung getroffen hat, abstinent zu leben und einem im Alltag trotzdem überall Alkoholflaschen „anspringen“. Kein Grund zur Sorge. 

Das heißt NICHT automatisch, dass du (unbewusst) wieder trinken willst. Es war für uns halt in der nassen Zeit immens wichtig, dass wir Überblick über unsere Alkoholvorräte und die Verfügbarkeit unseres Suchtstoffes hatten. Über Jahre darauf trainiert, ist unser Gehirn einfach sehr langsam, was das „Vergessen“ dieses Mechanismus` angeht.

Ich seh´s mit Humor

Ne halbvolle Weinflasche? Hätte ich früher ganz sicher nicht an der Straßenecke stehen lassen! Jede Bier-, Wein- oder Schnapsflasche, die auf diese Weise in mein Auge sticht, erinnert mich daran, dass ich heute zufrieden abstinent lebe und aus dem Teufelskreis der Sucht raus bin. Und dafür bin ich jeden Tag unglaublich dankbar.

Kennst du die Szene aus dem Film „The Sixth Sense“, in der der kleine Junge zu Bruce Willis sagt, er könne tote Menschen sehen? In derselben gruseligen Tonlage sage ich mir dann: „Ich kann leere Flaschen sehen!“ und muss sogleich drüber schmunzeln. Denn Flaschen – egal ob leer oder voll – haben längst ihre Macht über mich verloren.