Offenheit - Sag ich´s oder sag ich´s nicht?
„Ich bin trockene Alkoholikerin.“ Dieser Satz fiel mir lange unglaublich schwer. Ein Bekenntnis, das sich zunächst nach Stigma anfühlt, nach Makel, nach etwas, das ich nie sein wollte. Doch es gab kein Drumrum. Leugnen war längst zwecklos.
In meiner Therapie lernte ich nicht nur, diesen Satz anzunehmen, sondern er wurde Teil meiner Identität. Unter der Käseglocke einer Langzeittherapie inmitten von Gleichgesinnten kostet das offene Bekenntnis zur Sucht auch keine große Überwindung. Doch was ist zu Hause?
"Keiner hat was gemerkt" ist meist ein Irrglaube
Es hat vielleicht keiner was gesagt, doch dass wirklich niemand aus deinem Umfeld etwas von deiner Sucht geahnt hat, entpuppt sich bei den meisten ohnehin als Irrtum.
Man muss nicht jedem auf die Nase binden, dass man nun suchtfrei leben will, es hat sich bewährt, zunächst zumindest deine engsten Bezugspersonen einzuweihen. Wie weit du diesen Kreis dann ausweiten willst, machst du am besten nach Gefühl.
Ausreden sind anstrengend
Was nur kurze Zeit funktioniert sind Ausreden. Zumal es schnell kompliziert wird, wem man eigentlich was erzählt hat.. Beispiele:
„Warum trinkst du nichts?“
- Ich muss noch fahren. - Dann kannst du die Herrencreme ja probieren
- Ich nehme Medikamente. - Klappt wenige Wochen
- Es ist Fastenzeit. - Ja, bis Ostern....
- Ich bin auf Diät. - Passt du dein Essverhalten entsprechend an?
- Ich fahr gleich zum Sport. - Na dann halt ein alkoholfreies Bier.
Klar, es gibt Situationen, wo man einfach keine Lust hat, alles zu erklären und winkt mit einer Ausrede ab. Das ist völlig ok! Mich erinnert jedes Ausweichen, Beschönigen und Tricksen jedoch an meine nasse Zeit. Die Sucht machte mich unaufrichtig und verlogen. Mir selbst und anderen gegenüber. Ein Zustand, in den ich nicht wieder zurückverfallen will. Daher bin ich meistens offen, wenn mich jemand fragt. Ja, ich bin trockene Alkoholikerin. So what?!
Die häufigste Reaktion: WOW!
Aus meinem Familien- und Freundeskreis kam ausschließlich positives Feedback. Nach kurzer Betroffenheit, kam ganz viel Respekt und Stolz auf meinen Weg aus der Sucht heraus. Anerkennung, die mir sehr gut tat.
Die zweithäufigste Reaktion: der Gesprächspartner hat in seinem eigenen Freundeskreis oder in der Verwandschaft jemanden, der alkoholabhängig ist/war. Nahezu jeder ist direkt oder indirekt von Sucht (mit-)betroffen!
Sich zur Sucht(freiheit) zu bekennen wird nach und nach auch einfacher. Da wächst du hinein je mehr sich deine Abstinenz festigt.
Je klarer du mit deiner Suchtvergangenheit bist, desto weniger bist du angreifbar!
Die Alkoholsucht gehört zu meiner Vergangenheit und zu meiner Identität – genauso wie die Abstinenz heute. Das habe ich für mich angenommen und bin in innerem Frieden damit. Ich bin sicher, das merkt auch mein Gegenüber und wird mich unwahrscheinlicher herabwertend behandeln. (Habe ich bisher jedenfalls noch nie erleben müssen.)
Inzwischen geht meine Offenheit so weit, dass ich (mit Klarnamen) für den Vorstand meiner Selbsthilfegruppe tätig bin, mich auf Infoveranstaltungen zeige / Fragen beantworte und sogar im Lokalradio als Betroffene über Alkoholsucht & Selbsthilfe aufklären durfte.
Und im Job? Meine letzte Firma wusste nichts von meiner Sucht – es hat sich tatsächlich nie ergeben drüber zu sprechen. In zwei Vorstellungsgesprächen war ich seitdem offen mit meiner Erkrankung und hatte damit ein gutes Gefühl. Geworden ist es in diesen Fällen aus anderen Gründen nichts mit der Stelle. Kein Beinbruch. Heute bin ich selbständig und meine Suchtvergangenheit ist sogar zum Pluspunkt geworden: ich mache Öffentlichkeitsarbeit für Selbsthilfegruppen.
Deine Verena
P.S.: oft interessiert´s nichtmal wen..
„Nein danke, ich trinke keinen Alkohol.“ Irgendwann kommt der Zeitpunkt, dann wärst du tatsächlich sogar gerne offen, wenn einer nachfragen würde. Doch es hakt keiner nach, sondern stellt dir deine gewünschte Limo hin. Ja, es gibt tatsächlich noch viele viele andere Leute außer uns, die – aus den unterschiedlichsten Gründen – keinen Alkohol trinken und die müssen sich auch nicht permanent erklären. Es reicht völlig aus: „Ich trinke nicht.“ Punkt.