(Corona-)Krise als Chance
Corona hält die Welt in Atem und stellt die Menschen vor eine nie dagewesene Situation. Ängste, Unsicherheiten und die Infragestellung aller bisherigen Gewohnheiten und Lebensweisen zeigen, wie tief die Krise unsere Gesellschaft durchdringt. Gleichzeitig wird enorme kreative Schaffenskraft freigesetzt und es mobilisiert sich eine Welle der Solidarität, der Hilfsbereitschaft und des Mitgefühls miteinander.
Wir befinden uns an einem tiefgreifenden Umbruch, dessen Ausgang wir noch nicht kennen und der mich stark an den Beginn meines suchtfreien Lebens erinnert. Im Jahr bevor ich meine Langzeittherapie antrat, bestand mein Leben äußerlich betrachtet aus Sicherheit: gute Ausbildung, breite Berufserfahrung, harmonische Partnerschaft, ein paar Hobbys und ein solider Familien- und Freundeskreis. Eigentlich alles da was „man“ so braucht.
Nur ICH fehlte. Seit Jahren schon. Ich hatte keinerlei Gespür für meine Bedürfnisse, Selbstwertgefühl und Selbstfürsorge waren Fremdwörter, Grenzen zu setzen wagte ich kaum – dafür hätte ich ja auch erst einmal meine Bedürfnisse kennen müssen. Ich lebte, wie mir meine Außenwelt signalisierte, dass es richtig sei: bring Leistung, sei freundlich, fordere nicht, mach keinen Stress, lächle lieber. Ich hielt mich dran und bekam im Gegenzug den Anschein von Sicherheit.
Dann zerbrach meine Partnerschaft und ich verlor meinen Job. Meine vermeintlich doch so sichere Zukunftsperspektiven waren dahin. Zugleich ging meine Gesundheit ebenfalls stetig bergab: mein ohnehin schon hoher Alkoholkonsum nahm weiter zu, ebenso die vielfältigen Entzugserscheinungen und meine Depressionen. Was hatte ich noch?
Scheinbar irgendwo noch ein Fünkchen Lebenswillen und die Erkenntnis, dass ich so wie bisher nicht weiterleben konnte und wollte. Mein bisheriges Leben war zu Ende. Doch wie mein neues Leben (ohne Alkohol) aussehen könnte, war mir ein Rätsel. Ein völlig weißer Fleck. Ein Nichts. Unvorstellbar.
An diesem Punkt befinden wir uns derzeit auch in der Corona-Krise:
Unseren bisherigen ressourcenfressenden Lebensstil mit Raubbau an uns selbst und an unserer Umwelt können wir nicht länger aufrecht erhalten. Die vielfältigen Warnsignale haben wir lange genug ignorant überhört. Die Krise zwingt uns nun radikal zu Stillstand und Selbstschutz – so wie mich die Sucht zum völligen Stopp zwang.
Meine Langzeittherapie dauerte 15 Wochen, die ich äußerst ablenkungsfrei im idyllisch-ländlichen Bad Essen verbrachte. Eine intensive Zeit unter der berühmten „Käseglocke“. So restriktiv wie jetzt bei Corona waren die Ausgangssperren nicht, doch es gab klare Besuchszeiten und die ersten beiden Wochen war das Verlassen des Klinikgeländes nicht gestattet. Ansonsten waren Einkaufstouren, Ablenkungsmöglichkeiten und Ausflüge nur auf das nötigste begrenzt. Der Effekt und das Stimmungsgefühl von heute ist jedoch sehr ähnlich zu damals: ich bin völlig auf mich selbst und mein Inneres zurückgeworfen.
Wer soetwas nicht kennt oder gewohnt ist, dem kann das ganz schön Angst machen und für innere Unruhe oder gar Aggression sorgen. Doch wer sich darauf einlässt, kann wahre Schätze entdecken. Innere Sicherheit ist eine kostbare Fähigkeit, die selbst dann Bestand hat, wenn alles Äußere zerbricht.
Innere Sicherheit ist die EINZIGE Sicherheit, die wir haben.
Ich bin sehr dankbar, dass ich diese existentielle Erfahrung bereits im Rahmen meiner Sucht bzw. meiner Genesung machen durfte und gestärkt daraus hervorgegangen bin. Diese Resilienz hilft mir heute, die Unsicherheiten rund um Corona auszuhalten. Auch ich weiß nicht, wie die Zukunft wird. Sie wird anders, keine Frage. Und es bleibt uns nichts anderes übrig, als sie so anzunehmen. Ohne Bewertungen und ohne Ängste.
Leicht gesagt? Als jemand, der selbst monatelang unter einer generalisierten Angststörung litt, sage ich das nicht leichtfertig. Heute weiß ich: wenn ich Angst habe, lebe ich nicht im Hier & Jetzt. Ängste beziehen sich immer auf die Zukunft und nehmen eine negative Erwartungshaltung vorweg, obwohl sie (noch) nicht eingetreten ist. (Und ob sie überhaupt jemals eintreten wird, ist ohnehin fraglich.) Das Gute: dieser Ansicht wohnt gleichzeitig auch ein Lösungsansatz inne: Mir hilft es sehr, mich ganz auf das Hier & Jetzt zu fokussieren. Mit Meditation, Achtsamkeitsübungen und Dankbarkeit für das, was ich habe.
Wo Schatten ist, ist immer auch Licht.
Corona ist eine Erkrankung, deren Verluste und Gefahren ich keineswegs schmälern will. Wer Angehörige oder Freunde verloren hat, dem wünsche ich von Herzen tiefes Beileid und viel Kraft, diesen Verlust zu verarbeiten. Wer am Rande des Existenzminimums lebt oder alleinerziehend ist und bereits in „normalen Zeiten“ permanent rotiert, um irgendwie über die Runden zu kommen, wünsche ich, dass sie das Netz aus Mitgefühl und Unterstützungsangeboten dauerhaft stärkt. Allen Menschen in systemrelevanten Jobs, deren Wert(schätzung) wir bisher beschämend vernachlässigt haben: Danke für eure Kraft und euer Durchhaltevermögen! Wir haben jetzt die Chance, uns als Gesellschaft weiterzuentwickeln und die Welt lebenswerter zu gestalten. Nutzen wir sie!
Situation durch Corona:
- Freizeitmöglichkeiten entfallen.
- Kontakt zu Freunden und Familie kaum möglich.
- Ausgangssperren / Isolation
- Gewohnheiten (z.B. Händeschütteln, Nutzung von ÖPNV, Händewaschen, Vorratshaltung, Restaurantbesuche, Reisen u.v.m.) werden in Frage gestellt
- Arbeitsplätze in Gefahr, Existenzangst
- Finanzielle Einbußen
- Existentielle Fragen: Wer bin ich ohne all das o.g.? Was brauche ich wirklich zum Leben? Halte ich es wirklich mit mir aus?
Erkenntnisse nach meiner Sucht:
- Ich brauche längst nicht alle Freizeitmöglichkeiten, die ich bisher selbstverständlich in Anspruch genommen habe.
- Eine zeitweise Isolation / Rückzug von der Außenwelt tut mir gut.
- Durch einen Jobverlust / Jobwechsel habe ich mich weiterentwickelt.
- Es ist ok Single zu sein, der Richtige findet mich wenn es an der Zeit ist.
- Ich habe wahre Freunde, die auch nach Krisen bleiben.
- Ich habe gelernt mit mir selbst auszukommen, mich selbst wertzuschätzen und für mich zu sorgen.
- Ich darf Hilfsangebote (von Freunden, Familien, Gesundheitssystem, Arbeitsamt/Jobcenter) annehmen.
- Ich komme auch mit weniger Geld aus, wenn es sein muss.
- Ich kann anderen mit meinen Erfahrungen helfen.
- Sicher ist nur die Veränderung. Druck erzeugt Gegendruck. Annehmen führt zu Weiterentwicklung und Stärke.
Tipps, um suchtfrei durch die Krise zu kommen:
Auch wenn du gerade nicht zur Arbeit musst/darfst, achte auf einen geregelten Tagesablauf mit regelmäßigen Essenszeiten, mit Zeiten von Aktivität / Bewegung, sowie für Hobbys und Entspannung.
Auch wenn persönlicher Kontakt und körperliche Nähe derzeit nicht möglich ist, nutze Telefon oder digitale Kommunikationsmöglichkeiten, um dich mit anderen auszutauschen und dich nicht alleine zu fühlen. Sprich mit anderen über deine Sorgen, Ängste und Bedürfnisse.
Selbsthilfegruppen können sich derzeit zwar nicht real treffen, viele Gruppen halten über digitale Kanäle oder telefonisch Kontakt zu ihren Mitgliedern. Der Kreuzbund bietet sogar einen neuen Online-Chat, in dem du dich kostenlos und anonym mit anderen Suchtbetroffenen und Angehörigen austauschen kannst. Gruppenleiter/innen sind auch jetzt für Selbsthilfeneulinge meistens telefonisch oder per Mail erreichbar und können dir mit ihren Erfahrungen zur Seite stehen.
Gehe sorgsam mit dir um! Vermeide unnötige (Ansteckungs-)Risiken, achte auf ausgewogene Ernährung und deine Bedürfnisse.
Du bist von der derzeitigen Lage gefrustet, hast keinen Bock, bist wütend, ängstlich oder verzweifelt? Das ist verständlich und darf sein. Es ist eine noch nie dagewesene Situation und Überforderungsgefühle sind da nur menschlich. Habe Nachsicht mit dir und gib dir Zeit. Weder Selbstverurteilung noch Selbstmitleid sind hilfreich. Du tust dein Möglichstes und wirst jeden Tag Fortschritte machen.
Jetzt (wieder) zu trinken wäre fatal. Viele ambulante Therapieangebote sind eingeschränkt, Selbsthilfegruppentreffen finden derzeit nicht statt, Wegfall von Arbeit und Sozialkontakten bieten verlockende viel freie Zeit und das Gefühlschaos rund um Corona liefert zig Ausreden zum Trinken. Nur verständlich, wer jetzt mit Saufdruck zu kämpfen hat. Doch gib nicht auf! Bleib dran und gib deiner Sucht keine Chance! Hol dir (digitale) Unterstützung von Suchtberatungen (z.B. Caritas), im Chat des Kreuzbundes oder wende ich an Ansprechpartner von Selbsthilfegruppen vor Ort.
Sofern es dir gefahrlos möglich ist: beteilige dich an Hilfsaktionen, schau, was in deiner Gemeinde / Nachbarschaft an Unterstützung gebraucht wird. So lernst du neue Menschen kennen und erfährst Wertschätzung und Selbstwirksamkeit.
Irgendwann ist auch die Corona-Krise überstanden und du wirst hoffentlich (noch) resilienter und gestärkter daraus hervorgehen.
In unserem sonst so hektischen Leben ist solch eine Fülle an Zeit ein riesen Geschenk! Jetzt ist die Gelegenheit, ein neues Hobby auszuprobieren, mit dem Malen oder Meditieren anzufangen, den Garten umzugraben, Vogelhäuschen zu bauen, endlich mal den Keller aufzuräumen oder etwas anderes zu machen, für das du sonst „nie Zeit“ hattest.
Oder mach anderen eine Freude: schreibe den Menschen, die du derzeit nicht treffen kannst, einen lieben Brief.
Dankbarkeit stärken
Dankbarkeit ist eine wichtige Fähigkeit, die den Blick auf die eigenen Ressourcen lenkt und dadurch Kraft und Zuversicht schenken kann. Statt sich über Einschränkungen und Negatives zu ärgern, kann man auch den Blick auf die Fülle richten, die uns (nach wie vor!) umgibt:
- Negativ: ich darf nicht mehr rausgehen, nichts mehr unternehmen.
- Danke, dass ich ein sicheres Zuhause / ein schönes Heim habe, wo es warm ist und ich geborgen bin.
- Negativ: mir fehlen meine sozialen Kontakte / Freunde / Familie ...
- Danke, nun habe ich die Chance, mit Worten und Gesten deutlich auszudrücken, wie wichtig sie mir sind.
- Negativ: mir fehlen Freizeitmöglichkeiten (wie Kino, Fitnessstudio, Konzerte, Partys, Stammtisch, Shopping, Museumsbesuche, ….)
- Danke, dass ich die Schönheit der Natur wiederentdecken darf, dass es noch immer so schöne Gesellschaftsspiele, gute Bücher, DVDs, Kreuzworträtsel, Puzzle, Bastelarbeiten und viele weitere Beschäftigungsmöglichkeiten gibt.
- Negativ: mir ist so langweilig!
- Danke, dass es o.g. Beschäftigungsmöglichkeiten gibt, dass ich nun endlich Zeit für lange liegengebliebene Dinge (Aufräumen, Putzen, Renovieren, …) habe, dass ich Zeit habe, Neues zu Lernen und auszuprobieren (z.B. Onlinekurse, Malen/Basteln, Kochen/Backen) u.v.m.
- Negativ: Supermarktregale sind leer, es mangelt mir an ….. (z.B Klopapier, Mehl, Nudeln, Seife, ……)
- Danke, dass es trotzdem noch so viel zu Essen und zu Kaufen gibt, dass Menschen ihre Vorräte teilen, dass ich neue Rezeptideen (z.B. Backen ohne Mehl) entdecken darf.
- Negativ: ich verliere meinen Job.
- Danke, dass es Arbeitslosengeld / Kurzarbeitergeld etc. gibt und dass meine Grundbedürfnisse in Deutschland stets abgesichert sind; danke dass ich nun die Chance habe, mich beruflich zu verändern und eine Tätigkeit zu finden, die mich mehr erfüllt als mein bisheriger Job.
- Negativ: wenn ich mich anstecke, überlebe ich das bestimmt nicht.
- Danke, dass es in Deutschland eines der weltbesten Gesundheitssysteme gibt; danke, dass es zahlreiche Möglichkeiten gibt, die mich darin unterstützen, das Ansteckungsrisiko zu minimieren (z.B. Einkaufshilfen, Ausgehverbote, Schutzmasken, Nachbarschaftshilfe, etc.).
- Negativ: ich habe Angst vor der Zukunft.
- Danke, dass ich nicht alleine bin; danke, dass ich mich entscheiden kann, mich auf Positives zu fokussiere; danke, dass ich lebe!
Dies Liste lässt sich beliebig und individuell fortführen. Sie soll keine Probleme leugnen und keine Schmerzen geringschätzen! Die Situation wird durch Ängste, negative Gedankenspiralen und Sorgen jedoch kein Stück besser. Im Gegenteil: du verlierst dadurch nur Energie, die du jetzt dringender zur Krisenbewältigung brauchst.
Hintergrundwissen
„Die Krise bezeichnet im Allgemeinen einen Höhepunkt oder Wendepunkt einer gefährlichen Konfliktentwicklung in einem natürlichen oder sozialen System, dem eine massive und problematische Funktionsstörung über einen gewissen Zeitraum vorausging und die eher kürzer als länger andauert.
Die mit dem Wendepunkt verknüpfte Entscheidungssituation bietet in der Regel sowohl die Chance zur Lösung der Konflikte als auch die Möglichkeit zu deren Verschärfung. Dass es sich hierbei um einen Wendepunkt handelt, kann jedoch oft erst konstatiert werden, nachdem die Krise abgewendet oder beendet wurde. Nimmt die Entwicklung einen dauerhaft negativen Verlauf, so spricht man von einer Katastrophe (wörtlich in etwa „Niedergang“). (Quelle: Wikipedia)
„Resilienz ist die Fähigkeit, Krisen zu bewältigen und sie durch Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen als Anlass für Entwicklungen zu nutzen. Mit Resilienz verwandt sind Entstehung von Gesundheit (Salutogenese), Widerstandsfähigkeit (Hardiness), Bewältigungsstrategie (Coping) und Selbsterhaltung (Autopoiesis).
In der Medizin bezeichnet Resilienz auch die Aufrechterhaltung bzw. rasche Wiederherstellung der psychischen Gesundheit während oder nach stressvollen Lebensumständen und als Ergebnis der Anpassung an Stressoren definiert.“ (Quelle: Wikipedia)
„Selbstwirksamkeit – dieser Begriff beschreibt in der Psychologie die subjektive Gewissheit, neue oder schwierige Anforderungen souverän bewältigen zu können. „[Es geht] um dieses Gefühl, und auch um die Fähigkeit, etwas in die Hand zu nehmen, einen eigenen Weg zu gehen. Das Gefühl, ich kann etwas tun. Und das Vertrauen in die Welt. Werde ich in der Welt angenommen? Das heißt also, die Aufgabe wäre, dass Menschen einen Zugang zu ihrer Gestaltungsfähigkeit, zu ihrer Kreativität, aber auch zu etwas finden, was für sie ein sinnvolles, ein attraktives Ziel ist. Etwas, wo sie sich in Übereinstimmung fühlen. ……“ (Quelle: SWR)