Trotzdem trocken bleiben
Fortsetzung von Brigittes Sucht(frei)-Geschichte
Brigitte Haas ist Initiatorin dieses Blogs und berichtet an dieser Stelle wie es trotz allerlei Schicksalsschlägen und Widrigkeiten des Lebens möglich ist, standhaft abstinent zu bleiben und dem Alkohol keine Chance zu lassen. Welche Schicksalsschläge auf jemanden einprasseln, haben wir nicht in der Hand. Ob ich einen Rückfall baue oder nicht – ist MEINE Entscheidung. Brigitte hat sich entschieden, trotz allem trocken zu bleiben. Wertvolle Inspiration für alle, die selbst grad kämpfen und es nicht leicht haben:
„Ich möchte euch von meinen letzten eineinhalb Jahren berichten, genauer vom 18. Dezember 2020 bis Juli 2022. Wenn ihr meine bisherige Sucht-Geschichte vorab gelesen habt, wisst ihr, dass ich die Meinung vertrete, dass es keinen Grund zum Trinken gibt, sondern lediglich Ursachen. Gründe, wenn es sie gäbe, hätte ich mehr als ausreichend gehabt…
Am 18. Dezember 2020 habe ich in der Nacht der Blut gepinkelt. Ich bekam natürlich Angst! Wer hätte sie nicht? Mir war klar, das war der ungünstigste Zeitpunkt einen Arzt aufzusuchen. Freitags vor Weihnachten, wie blöd. Ich fuhr ohne Termin in die Praxis von meinem Hausarzt. Ich schilderte der medizinischen Fachangestellten mein Problem. Sie nahm mich sehr ernst und nach kurzer Zeit saß ich bei meinem Hausarzt im Sprechzimmer. Nach einer kurzen Schilderung meines Problems, drückte er mir eine Überweisung für die Gynäkologie im Krankenhaus in die Hand. Erleichterung machte sich bemerkbar. Wenn es doch nur ein gynäkologisches Problem ist, lässt sich das sicherlich schnell beheben. Ich bin schließlich 62 Jahre alt. Wird wahrscheinlich auf eine Ausschabung hinauslaufen, da kenne mich ja schließlich aus als Physiotherapeutin. Nach einer eingehenden Untersuchung durch die Stationsärztin (der ich noch heute zutiefst dankbar bin), stellte sie fest, dass in der Blase etwas ist, was dort nicht hingehört. Ohje, da war sie wieder die Angst. Gesehen hab ich selbst auch etwas.
Gedankenkarussell und Ängste – wochenlang
Mein Gedankenkarussell fing an sich verdammt schnell zu drehen. Der Oberarzt kam auch noch hinzu, shit dachte ich. Ich sollte mich wieder auf den Weg zum Hausarzt machen, in der Zeit würde er mit ihm telefonieren. Nur soviel, das ist ein Fall für die Urologie. Also wieder zurück zum Hausarzt. Dort angekommen konnte ich ohne Wartezeit direkt zu ihm. Die Überweisung für die urologische Notfallambulanz in Herford (15 km von meinem Wohnort entfernt) schon in der Hand.
Ich machte mich also auf den Weg. Aus meiner Angst wurde Panik. Ich dachte sofort, dass ich bestimmt Krebs habe. Dort angekommen, ging alles recht zügig, Urinprobe, es kam mittlerweile nur noch Blut, Ultraschall von der Blase und natürlich Blutabnahme. Nach einer Weile kam der sehr einfühlsame Arzt wieder, um mit mir das weitere Prozedere zu besprechen. Dieses gestaltete sich wie folgt: 29. Dezember Coronatest, EKG sowie das Anästhesiegespräch. 30. Dezember um 6.30 Uhr Aufnahme, dann Blasenspiegelung unter Vollnarkose mit der Entfernung des veränderten Gewebes. Ich wusste nicht, wo mir der Kopf stand.
Statt Weihnachtsstimmung Angst vor Krebs
Meine Gedanken fuhren Achterbahn. Es war doch Weihnachten, mein Partner legt sehr großen Wert auf ein tolles Weihnachtsmenü. Wie soll ich das alles schaffen?! Auf dem Rückweg nach Hause hab ich nur geheult. Zuhause angekommen, erzählte ich meinem Partner von den Ereignissen und von meiner Angst vor Blasenkrebs. Seine Reaktion war nicht sehr einfühlsam, nach dem Motto: „Das wird schon nix schlimmes sein“. Er ging sofort zur Tagesordnung über und fragte ernsthaft, ob ich mir Gedanken über das Weihnachtsessen gemacht habe. Wohl kaum, habe doch gerade ganz andere Sorgen.
Von diesem Zeitpunkt an hab ich nur noch funktioniert – wie damals in meiner nassen Zeit. Was soll ich euch sagen, ich habe nicht einen einzigen Gedanken daran verschwendet, diese ganze beschissene Situation in Alkohol zu ertränken!!! Die Weihnachtstage habe ich irgendwie rumbekommen. Wie? Keine Ahnung. Viel mit meiner Freundin telefoniert, geweint, fern gesehen usw.
Am 29.12. fand die Vorbesprechung des Eingriffs statt und am 30.12. machte ich mich mich um 5.30 Uhr auf den Weg nach Herford. Mein Partner schlief noch, während ich mich mit allerlei Kopfkino auf den Weg ins Krankenhaus machte. Auf Station angekommen, ging die OP-Vorbereitung auch schon los. Nachmittags gegen 15.00 Uhr wachte ich langsam auf, ich war katheterisiert und es hing ein Riesenbeutel mit Flüssigkeit an dem Ständer neben meinem Bett. Das ist zum Spülen der Blase, erfuhr ich von der Schwester. Dann kam der Arzt und teilte mir mit, dass der Tumor nicht gut aussah und genaueres könnte er erst sagen, wenn der histologische Befund da ist. Dauert ca. 10 Tage. Ich verbrachte Silvester in der Klinik im 7. Stock. Es durfte dank Corona sowieso nicht geknallt werden. Am 1. Janurar 2021 wurde ich entlassen. Frohes Neues Jahr…
Blasenkrebs, Chemo und Alltagslogistik
Alles weitere wird mein Urologe mit mir besprechen. Am 11. Januar hatte ich endlich den Termin, bis dahin begleitete mich die Angst und jede Menge Kopfkino. Und das alles ohne Alkohol. Ich wollte diese Situation bewusst erleben und auch aushalten und mich nicht betäuben. Die Angst würde dadurch ja nicht weggehen.
Ok, lange Rede kurzer Sinn. Der Befund lautete bösartiger nicht invasiver Blasentumor. Das bedeutet, dass er immerhin nicht in die Blasenwand eingewachsen war. Tja und nun????? Ich müsse mich einer lokalen Chemotherapie unterziehen, die kaum Nebenwirkungen haben solle. Alle vier Wochen bekam ich ein Medikament in die die Blase gespritzt (40 ml „Gift“). Die Nebenwirkungen waren nicht schön. Ich entwickelte eine chronische Blasenentzündung. Ich musste seitdem in der Nacht jede Stunde zur Toilette, tagsüber oft alle 10 Minuten. Mein gesamter Tag- und Nachtrhythmus wurde von meiner Blase bestimmt. Absoluter Stress.
Und da war sie wieder, meine Reflexion auf die nasse Zeit: 25 Jahre hat der Alkohol und alles was damit zusammenhängt mein Leben bestimmt, und DAS war wirklich Stress pur. Alle, die betroffen sind, wissen wovon ich spreche. Ich übte nach wie vor meine ehrenamtlichen Tätigkeiten als Gruppenleiterin zweier Selbsthilfegruppen und als BEA-Beraterin aus. Mein kompletter Alltag musste also von nun an von mir minutiös so geplant sein, dass ich immer die Möglichkeit hatte, eine Toilette aufzusuchen. Genauso war es damals mit dem Alkohol auch: Tagesprogramm, heimliche Trinkgelegenheiten, unbemerkt Nachschub organisieren, mir nichts anmerken lassen, wieder trinken, ausnüchtern, Tagesprogramm… Sucht ist ein Teufelskreis. Doch während meiner Krebserkrankung kam mir mein logistisches Talent aus der nassen Zeit tatsächlich zu Gute und hat mir in der Situation geholfen. Planen können wir doch alle total gut, oder??
Wenns kommt, dann dicke..
Zu allem Unglück bin ich im Februar 2021 gestürzt und habe mir den zweiten Lendenwirbel gebrochen. Wieder ins Krankenhaus, shit. Ich hatte Glück, es war immerhin ein stabiler Bruch und ich konnte nach zwei Tagen nach Hause. Natürlich hatte ich starke Schmerzen, die ich mit Schmerzmitteln betäuben musste. Eben aber NICHT mit Alkohol.
Mein Partner hat sich währenddessen verhalten wie immer: Null einfühlsam! Ich sehnte mich nach Halt und Untersützung. „Wenn er mich doch nur einmal in den Arm nehmen würde.“, dachte ich oft. Doch nix passierte, also funktionierte ich wieder. Ich war sehr traurig und weinte oft.
Ab Juni/Juli 2021 fing mein Partner an darüber zu klagen, dass auch er Probleme beim Wasser lassen hat. Geduldig hörte ich mir sein Klagen an. Meine Hinweise geh doch mal zum Urologen, ignorierte er. Meine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Im August 2021 hab ich ihn dann an einem Sonntag in die Notfallambulanz Herford geschickt, ich hatte keine Kraft mehr. Er ist alleine gefahren. Nun begann sein Schicksal: Er kam mit einem Katheter zurück. Von da an drehte sich alles nur um ihn und eine Odyssee von Untersuchungen begann. Meine eigene Blasengeschichte und gesundheitliche Baustellen liefen nebenbei… Lange Rede kurzer Sinn, er hat Prostatakrebs mit Metastasen in den Knochen. Ich dachte nur, wäre er mal früher gegangen. Er veränderte sich zunehmend auch mental. Er wurde mürrisch, ungehalten und beschimpfte mich ständig ohne Grund. Ich vermutete eine beginnende Demenz. Mein Partner war damals bereits 82 Jahre. Ich suchte mir Hilfe bei Dr. Kemper (Chefarzt der Bernhard-Salzmann Klinik, in der ich selbst meinen Weg aus der Alkoholsucht gefunden habe). Ich musste das Erlebte einem Profi mitteilen. Er hat mir sehr geholfen. Ich ging gestärkt aus dem Gespräch. (Reden hilft!)
Krebs, Corona und das Ende einer 26jährigen Beziehung
Am 14. November kam der (erwachsene) Sohn meines Partner zu Besuch. Er lebt in Portugal. Er machte sich natürlich Sorgen um seinen Vater. Von dem Tag an veränderte sich mein Leben komplett, leider zum Negativen. Marco übernahm die Regie in unserem Haus. Ich muss dazu sagen, daß mein Partner und sein Sohn sehr eng miteinander sind. Was Marco sagt, ist für meinen Partner Gesetz!
Dann am 19. November wurde ich positiv auf Corona getestet, scheiße das auch noch! Also 14 Tage Quarantäne. Julio, meinen Partner hatte ich ebenfalls angesteckt. Als Krebserkrankte und in unserem Alter gehörten wir beide zur Risikogruppe. Meine Symptome hielten sich zum Glück in Grenzen. Julios Symptome waren dagegen besorgniserregend, sodass ich den Krankenwagen rufen musste. Marco war mit der Situation hoffnungslos überfordert. Ich funktionierte mal wieder, obwohl mich die beiden komplett ignorierten. Ich tat alles, telefonierte mit der Ärztin und und und. Nach drei Tagen wurde Julio aus dem Krankenhaus entlassen. Er war komplett verwirrt, was häufig bei älteren Menschen nach einem Aufenthalt im Krankenhaus passiert. Marco blieb weiterhin bei uns, obwohl er ursprünglich nur 14 Tage bleiben wollte und übernahm die Pflege von Julio. Ich selbst konnte es ja nicht, da ich gehbehindert und auf den Rollator angewiesen bin – und mein Blasenproblem hatte ich ja auch noch. Ich schlief derweil in einem kleinen Gästezimmer, zog mich mehr und mehr zurück von den beiden, da sie mich ja ohnehin nicht mehr wahrnahmen. Tagsüber kümmerte ich mich um meine ehrenamtlichen Tätigkeiten und abends zog ich mich in mein kleines Zimmer zurück und war froh, wenn ich einfach meine Ruhe hatte.
Ich versuchte immer und immer wieder ein vernünftiges Gespräch mit Marco zu führen, wie es denn nun weiterginge mit seinem Vater. Es kam nichts! Übrigens: Marco ist 50! Irgendwann platzte mir der Kragen und ich habe auf eine Lösung gedrängt. Marcos kalte Antwort: „Ich nehme Julio mit nach Portugal, weil DU kannst ihn ja nicht pflegen!“ Von einer Sekunde auf die andere war mir schlecht und ich wusste nicht mehr bin ich Männlein oder Weiblein. Was passierte da gerade????? Julio und ich sind seit 26 Jahren zusammen. Und dann kommt der Sohn und sagt so etwas????
Für mich brach eine Welt zusammen.
Ich kürze nun mal ab. Beide flogen am 22.12.2021 (ja, zwei Tage vor Weihnachten) nach Portugal. Das war das letze Mal, dass ich Julio und Marco gesehen habe. Mit Julio folgten noch einige Telefonate, die fast normal verliefen. Dann im Februar 2022 schrieb ich eine WhatsApp, dass ich sehr verletzt bin. Julios Antwort: „Ich auch.“ Ich zurück: „Und nun?“ Er: „Ziehst du aus oder ich?“ Er machte mir dann noch den Vorwurf, dass ich ihn ja rausgeschmissen hätte. Es kam zu keinem weiteren Gespräch! Für ihn kam nur noch die Trennung in Frage. Ohne Worte. Per Whatsapp. Nach 26 Jahren Beziehung! Mir riss es den Boden unter den Füßen weg. Zum Glück hatte Dr. Kemper viel Zeit für mich!!
Zwischenzeitlich musste ich wieder ins Krankenhaus, ich hatte einen Nierenstau und bekam eine Harnleiterschiene, weil die Entzündung den Harnleiter erreicht hat und der Urin nicht abfließen konnte. So ist das wohl, wenn einem im wahrsten Sinne „etwas an die Nieren geht“.. Und davon gabs die letzten Monate ja wie ihr lesen könnt, mehr als genug.
Blick nach vorne – rein ins neue Single-Leben
Ab März begann ich auf ebay nach Wohnungen Ausschau zu halten, rechnete aber bei der angespannten Lage am Wohnungsmarkt (und in meinem Geldbeutel) jedoch nicht mit einer schnellen Wohnalternative. Doch das Schicksal muss wohl langsam mal Mitgefühl mit mir gehabt haben und so bekam ich bereits am 31. März eine Zusage für MEINE Wohnung. Klein und schnuckelig und nur wenige Straßen entfernt. Ich gehe sehr offen mit meiner Suchterkrankung um und habe auch bei meinem Vermieter reinen Tisch gemacht, warum ich schnellstmöglich umziehen will und dass ich trockene Alkoholikerin bin. Ganz beeindruckt von so viel Offenheit, erzählte er mir, dass er selbst einst in der Suchthilfe aktiv war, mein ehrenamtliches Engagement sehr schätzt und mich gerne als neue Mieterin begrüßen möchte! Jackpott! Und es tat gut, sich endlich mal wieder willkommen zu fühlen.
Ich regelte im Eiltempo alles Notwendige für den Umzug, Julio war währenddessen noch in Portugal. Drei Wochen später, am 22. April bin ich ausgezogen und habe es geschafft, meine neue Wohnung dank freundlicher Helfer:innen nach meinen Bedürfnissen zu gestalten und einzurichten. Heilfroh und stolz auf mich, dass ich das als 62jährige körperlich eingeschränkte Frau ohne finanzielles Polster geschafft hatte. Und das alles OHNE Alkohol!
Für mich begann einer neuer Lebensabschnitt.
Zum Glück hatte ich viele nette Menschen an meiner Seite, die mich tatkräftig unterstützt haben. Finanziell sieht es zwar nicht so rosig aus, aber ich komme einigermaßen hin. Ich war mit Julio nicht verheiratet, sodass ich auch keinen rechtlichen Anspruch auf eine Abfindung hatte. Ach, mir fällt gerade noch ein, Julio sagte mir noch, genau DAS sei der Grund weshalb er mich nicht geheiratet hatte. Wieder ein Schlag ins Gesicht.
Trotzdem JA zum Leben sagen.
Mein Gesundheitszustand hat sich seitdem deutlich gebessert und ich bin momentan krebsfrei! Natürlich bin ich noch oft traurig, weine auch noch viel, wenn ich an die vergangenen 26 Jahre denke. Ich bin trotzdem sehr stolz auf mich und durchaus glücklich darüber, das ich das alles geschafft habe. Und vor allen Dingen OHNE ALKOHOL!!!!!!!
Der Rückblick auf die letzten Jahre hat mir aber auch gezeigt, wie wichtig es ist, das eigene Selbstwertgefühl nicht von anderen Menschen – egal ob Partner, Eltern, Chef oder wer auch immer – abhängig zu machen. Sich selbst als wichtig und wertvoll anzusehen, sich für die eigenen Bedürfnisse und Wünsche stark zu machen und achtsam mit sich selbst und seinem Körper umzugehen ist unerlässlich, um auch die Widrigkeiten und Krisen des Lebens trocken und kraftvoll zu überstehen. Dies ist ein lebenslanger Lernprozess, wie du an mir siehst. Doch dieser Weg lohnt sich.
Daher möchte ich mit meiner Geschichte Mut machen und inspirieren, egal wie dunkel dein Leben gerade aussieht, Alkohol oder Substanzen machen es nur noch dunkler. Licht und Freude kommen zurück, wenn du bei dir bleibst und dein Selbstwertgefühl stärkst und wenn du dich Menschen öffnest, die dich unterstützen. Trotzdem trocken bleiben – ein unbezahlbares Gefühl.
P.S.: Und ich danke Verena, dass sie mir in der Zeit beigestanden hat. Als Selbsthilfeaktive wissen wir beide, wie wichtig es ist, offen und vertraulich miteinander reden zu können. Danke für die Unterstützung, für das Korrektur lesen dieses Textes vor allen Dingen und dass sie meine Gedanken in die richtigen Worte umgewandelt hat.
Eure Brigitte